Kinder aus der Ukraine – justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen

Kinder, denen aufgrund der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine ihr familiäres Umfeld entzogen wurde – geltende europäische und internationale Instrumente in grenzüberschreitenden Zivilsachen.

Dieses Informationsblatt wurde vom Europäischen Justiziellen Netz für Zivil- und Handelssachen erstellt.

 

Die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine wirft Fragen hinsichtlich der Lage von Flüchtlingskindern auf, die aus der Ukraine in die Europäische Union vertrieben werden. Die Frage wird noch komplexer, wenn diese Kinder von ihren Familien getrennt werden, entweder weil diese in der Ukraine geblieben sind oder weil sie Flüchtlinge in einem anderen Mitgliedstaat sind.

Nun muss dringend sichergestellt werden, dass diese Kinder vor der Gefahr von Gewalt, Ausbeutung, illegaler Adoption, Entführung, Verkauf oder Kinderhandel geschützt werden. Aus diesem Grund ist es entscheidend, die Instrumente zum Schutz der Rechte dieser Kinder zu nutzen.

Im europäischen und internationalen Recht gibt es Instrumente zur Gewährleistung des Schutzes von Kindern, mit besonderen Bestimmungen über den Schutz und die Unterstützung von Kindern, denen vorübergehend oder dauerhaft ihr familiäres Umfeld entzogen wurde, beispielsweise in Notsituationen wie einem bewaffneten Konflikt.

Gerichtliche Zuständigkeit

Nach Artikel 8 der Brüssel-IIa-Verordnung [1] und Artikel 7 der Brüssel-IIb-Verordnung sind in Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung für ein Kind die Gerichte [2] des Mitgliedstaats [3] zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Befassung des Gerichts seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Jedoch bleiben die ukrainischen Gerichte zuständig, wenn das Kind vor der Vertreibung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Ukraine hatte. In der Regel nimmt der Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts einige Zeit in Anspruch, und das Gericht muss sich vergewissern, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind [4]. Dementsprechend wird ein ukrainisches Kind, das in die EU einreist, wahrscheinlich für einige Zeit keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der EU haben, sodass Artikel 8 der Brüssel-IIa-Verordnung und Artikel 7 der Brüssel-IIb-Verordnung in vielen Fällen nicht greifen.

Artikel 13 Absatz 2 der Brüssel-IIa-Verordnung und Artikel 11 Absatz 2 der Brüssel-IIb-Verordnung regeln die Zuständigkeit aufgrund der Anwesenheit des Kindes im Falle von Kindern, die Flüchtlinge oder, aufgrund von Unruhen in ihrem Land, ihres Landes Vertriebene sind. Nach Artikel 52 Absatz 2 des Haager Kinderschutzübereinkommens von 1996 (in Verbindung mit Erwägungsgrund 25 der Brüssel-IIb-Verordnung) sollte diese Zuständigkeitsregel jedoch nur für Kinder gelten, die vor der Vertreibung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hatten. War der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes vor der Vertreibung in einem Drittstaat wie der Ukraine, sollte die Zuständigkeitsregel des Haager Übereinkommens von 1996 für geflüchtete Kinder und ihres Landes vertriebene Kinder gelten. Die Ukraine und alle EU-Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien des Haager Übereinkommens von 1996 (HCCH | #34 - Statustabelle).

In Artikel 6 Absatz 1 des Haager Übereinkommens von 1996 heißt es: „Über Flüchtlingskinder und Kinder, die infolge von Unruhen in ihrem Land in ein anderes Land gelangt sind, üben die Behörden des Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich die Kinder demzufolge befinden, die in Artikel 5 Absatz 1 vorgesehene Zuständigkeit aus.“

Weitere Informationen über die Anwendung des Haager Kinderschutzübereinkommens von 1996 auf unbegleitete und von ihren Familien getrennte Kinder finden Sie hier und hier.

Nach Artikel 8 und 9 des Haager Übereinkommens von 1996 sowie Artikel 15 der Brüssel-IIa-Verordnung und Artikel 12 und 13 der Brüssel-IIb-Verordnung kann die Zuständigkeit einem Gericht übertragen werden, das den Fall besser beurteilen kann. In der derzeitigen Situation könnte dies den Schutz eines Kindes aus der Ukraine (z. B. bei der unbegleiteten Einreise in die EU) betreffen, falls die zuständige Behörde feststellt, dass das Kind Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat hat. In so einer Situation kann der erste Mitgliedstaat die Übertragung der Zuständigkeit beantragen, wenn das Kind eine besondere Bindung zu dem zweiten Mitgliedstaat hat und die Übertragung dem Wohl des Kindes dient.

Für ein besseres Verständnis der Anwendung der Brüssel-IIa-Verordnung oder der Brüssel-IIb-Verordnung sind die hier abrufbaren Praxisleitfäden nützliche Instrumente.

Anwendbares Recht

Im Falle einer militärischen Aggression stellt das Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 ein wichtiges Instrument zum Schutz von Kindern dar, einschließlich solcher, die unbegleitet oder von ihren Familien getrennt sind und Asyl suchen. Die Ukraine und alle EU-Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien des Haager Kinderschutzübereinkommens von 1996 (HCCH | #34 - Statustabelle).

Nach Artikel 16 Absatz 1 des Haager Übereinkommens von 1996 bestimmt sich die Zuweisung der elterlichen Verantwortung kraft Gesetzes ohne Einschreiten eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde nach dem Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, d. h. nach dem ukrainischen Recht für Kinder, die in der Ukraine ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Gleiches gilt für die Zuweisung der elterlichen Verantwortung durch eine Vereinbarung oder ein einseitiges Rechtsgeschäft (Artikel 16 Absatz 2 des Haager Übereinkommens von 1996). Darüber hinaus besteht die nach dem Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes bestehende elterliche Verantwortung nach dem Wechsel dieses gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Staat fort (Artikel 16 Absatz 3 des Haager Übereinkommens von 1996). Die Ausübung der elterlichen Verantwortung bestimmt sich auch nach dem Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes (Artikel 17 des Haager Übereinkommens von 1996).

Ferner sieht Artikel 23 des Haager Übereinkommens von 1996 die Anerkennung kraft Gesetzes von Maßnahmen vor, die in einem anderen Vertragsstaat getroffen wurden. Dementsprechend wird eine ukrainische Maßnahme, die in den Anwendungsbereich des Übereinkommens fällt, automatisch in anderen Vertragsstaaten anerkannt, ohne dass es einer förmlichen Anerkennung bedarf. Daher bleiben die ukrainischen Maßnahmen innerhalb der EU gültig.

Wie in Artikel 18 des Haager Übereinkommens von 1996 näher erläutert, kann durch Maßnahmen nach diesem Übereinkommen die in Artikel 16 des Haager Übereinkommens von 1996 genannte elterliche Verantwortung entzogen oder können die Bedingungen ihrer Ausübung geändert werden. In Artikel 15 Absatz 1 des Haager Übereinkommens von 1996 heißt es: „Bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit nach Kapitel II wenden die Behörden der Vertragsstaaten ihr eigenes Recht an“, sodass die Vertragsparteien in diesen Fällen ihr innerstaatliches Recht anwenden.

Weitere Informationen über die Anwendung des Haager Kinderschutzübereinkommens von 1996 auf unbegleitete und von ihren Familien getrennte Kinder finden Sie hier und hier.

Zusammenarbeit zwischen den Zentralen Behörden

Die Funktionsweise der nach dem Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 benannten ukrainischen Zentralen Behörde ist beeinträchtigt und kann aufgrund der derzeitigen Krise vorübergehend eingeschränkt sein.

In Situationen, die die Zusammenarbeit zwischen den Zentralen Behörden der Mitgliedstaaten betreffen (z. B. wenn ein Kind, das in einem Mitgliedstaat untergebracht wurde, Geschwister in einem anderen Mitgliedstaat hat), könnten die Artikel 55 und 56 der Brüssel-IIa-Verordnung[1] oder die Artikel 80 und 82 der Brüssel-IIb-Verordnung Anwendung finden.

Im Zusammenhang mit der Unterbringung in Pflegefamilien könnten auch die von den Mitgliedstaaten auf dem Europäischen Justizportal veröffentlichten Informationen darüber, wie das Verfahren für die grenzüberschreitende Unterbringung – darunter in Pflegefamilien – abläuft, nützlich sein und sind hier abrufbar.

Für ein besseres Verständnis der Anwendung der Brüssel-IIa-Verordnung oder der Brüssel-IIb-Verordnung sind die hier abrufbaren Praxisleitfäden nützliche Instrumente.

Wie kann das Europäische Justizielle Netz für Zivil- und Handelssachen (EJN-Zivilrecht) helfen?

Das EJN-Zivilrecht unterstützt die Umsetzung der zivilrechtlichen Instrumente der EU in der täglichen Rechtspraxis. Zusätzlich zur Zentralen Behörde können Sie die EJN-Kontaktstelle in Ihrem Mitgliedstaat kontaktieren, wenn Sie ein spezifisches Problem in einem grenzüberschreitenden Fall haben. Ihre Kontaktstelle kann sich beispielsweise nach dem aktuellen Stand eines Ersuchens erkundigen, dabei helfen, den Kontakt zwischen zwei Gerichte herzustellen oder die Kontaktdaten einer zuständigen Behörde in einem anderen EU-Mitgliedstaat zu finden.

Weitere Informationen über das EJN und darüber, wie es helfen kann.

Wie finde ich meine nationale Kontaktstelle?

Nützliche Links


[1] Mit Wirkung vom 1. August 2022 wurde die Brüssel-IIa-Verordnung durch die Brüssel-IIb-Verordnung ersetzt; die Brüssel-IIa-Verordnung gilt jedoch weiterhin für Verfahren, die vor dem 1. August 2022 eingeleitet wurden.

[2] Nach Artikel 2 Absatz 1 der Brüssel-IIa-Verordnung und Artikel 2 Absatz 2 Nummer 1 der Brüssel-IIb-Verordnung bezeichnet der Ausdruck „Gericht“ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die in den Anwendungsbereich der beiden Verordnungen fallen.

[3] Diese beiden Verordnungen gelten nicht für Dänemark, das ähnliche Zuständigkeitsregeln des Haager Kinderschutzübereinkommens von 1996 anwendet.

[4] Für die Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt” siehe beispielsweise die Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen C-523/07, C-497/10 PPU, C-376/14 PPU, C-111/17 PPU, C-512/17 und C-393/18 PPU.

Letzte Aktualisierung: 01/02/2023

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