BGH, Urteil vom 15. 10. 2002 - X ZR 147/01 (Frankfurt a. M)
Zum Sachverhalt:
Die Kl. buchte für sich und drei Angehörige, die ihre Ansprüche an sie abgetreten haben, bei der Bekl., einem Reiseveranstalter, für die Zeit vom 21.9. bis 6. 10. 1998 eine Flugpauschalreise in eine Ferienanlage in der Dominikanischen Republik; die Gesamtreisekosten beliefen sich je Person auf 2970 DM. Die Ferienanlage war bei Eintreffen der Reiseteilnehmer am 21. 9. 1998 gegen 18 Uhr bereits auf den erwarteten Hurrikan „Georges“ vorbereitet. Dieser erreichte in der Nacht die Anlage und zerstörte diese weitgehend. Am 24. 9. 1998 wurden die Kl. und die anderen Reiseteilnehmer zu einem Hotel im Norden des Landes gebracht. Nachdem die Kl. mehrmals bei der Reiseleitung vorstellig geworden war, wurden sie und ihre Angehörigen am 30. 9. 1998 nach Deutschland zurückgebracht. Die Bekl. hat außergerichtlich einen Betrag von 2305 DM an die Kl. erstattet. Die Kl. hat die Rückzahlung des gesamten Reisepreises für die vier Reiseteilnehmer abzüglich der erstatteten Beträge, insgesamt in Höhe von 9575 DM, sowie weitere 4000 DM, jeweils nebst Zinsen, als Schadensersatz für nutzlos aufgewandte Urlaubszeit verlangt. Sie hat vorgetragen, dass die Bekl. die ihr obliegenden Informationspflichten wegen des bevorstehenden Hurrikans verletzt habe, für den bereits am 20. 9. 1998 um 23 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit (MESZ) eine Vorwarnung und am 21. 9. 1998 um 11 Uhr MESZ die Hauptwarnung herausgegeben worden sei.
Das LG hat der Klage in Höhe eines Hauptsachebetrags von 13207 DM nebst Zinsen stattgegeben. Auf die im Übrigen zurückgewiesene Berufung der Bekl. hat das BerGer. die Klage abgewiesen, soweit diese einen Betrag von 3404,52 DM nebst Zinsen überstieg. Die Revision der Kl. führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das BerGer.
Aus den Gründen:
I. Das BerGer. hat ausgeführt, die Kl. habe nach Kündigung des Reisevertrags wegen höherer Gewalt den Rückflug für den 30. 9. 1998 durchgesetzt. Daher komme die Bestimmung des § 651j II BGB zur Anwendung. Danach verliere die Bekl. den Anspruch auf den Reisepreis, sie könne aber für erbrachte Reiseleistungen Entschädigung verlangen. Diese Entschädigung sei allerdings zu mindern, soweit die Leistungen mangelhaft gewesen seien. Weitergehende Ansprüche, insbesondere Schadensersatzansprüche aus positiver Vertragsverletzung, ständen der Kl. nicht zu, weil der Bekl. eine Pflichtverletzung nicht vorzuwerfen sei. Die Bekl. sei nicht gehalten gewesen, die beim Deutschen Wetterdienst am 20. 9. 1998 um 23 Uhr MESZ eingegangene Hurrikan-Vorwarnung abzufragen. An diesem Abend habe die Eintreffwahrscheinlichkeit nur bei 1 : 4 gelegen; die Gefahr habe sich daher noch nicht verdichtet. Selbst wenn man aber von einer Pflichtverletzung seitens der Bekl. ausgehen wolle, liege auf deren Seite kein Verschulden vor, weil sie keinen Notdienst habe einrichten müssen. Auch habe die Bekl. ihre Fürsorgepflicht nach Eintreffen der Reisenden in der Dominikanischen Republik nicht verletzt.
II. Diese Beurteilung greift die Revision mit Erfolg an.
1. Sie macht zunächst geltend, dass den Reiseveranstalter Erkundigungs- und Informationspflichten hinsichtlich der Gefährlichkeit des Urlaubsorts träfen, die es erfordert hätten, regelmäßig Informationen über die Dominikanische Republik einzuholen. Diese Verpflichtung sei dadurch verstärkt worden, dass sich der Hurrikan „Georges“ bereits am 17. 9. 1998 entwickelt und am Golf von Mexiko Verwüstungen angerichtet habe. An die Erkundigungspflicht seien hinsichtlich der Konkretheit der Gefahrenlage geringere Anforderungen zu stellen als an die Informationspflicht des Reiseveranstalters. Auch wenn sich zunächst die Gefahr noch nicht so verdichtet haben möge, dass die Bekl. eine Hinweispflicht getroffen habe, sei doch mit einem Abdrehen des Hurrikans in Richtung auf die Dominikanische Republik zu rechnen gewesen. Die Bekl. sei daher verpflichtet gewesen, am Morgen des 20. 9. 1998 selbst Auskünfte beim Deutschen Wetterdienst einzuholen. Auf dieser Grundlage hätte sie nach Auffassung der Revision die Kl. und deren Begleiter über die Vorwarnung informieren müssen, denen es dann überlassen geblieben wäre, die Reise anzutreten.
2. Die Bekl. ist demgegenüber der Ansicht, dass es ihr nur oblegen habe, die Kl. über konkrete Erkenntnisse über das tatsächliche Eintreffen eines Hurrikans im Zielgebiet zu informieren. Eine besondere Gefahrenlage habe nach der Vorwarnung aber nicht bestanden, da lediglich eine Wahrscheinlichkeit von 1 : 4 für das tatsächliche Eintreffen des Hurrikans im Zielgebiet bestanden habe. Entgegen der Auffassung der Revision komme als schadensverursachend nur die Verletzung einer Hinweispflicht, nicht aber bereits die einer Erkundigungspflicht in Betracht. Eine solche Pflicht, die es dem Reisenden ermöglichen solle, von seinem Kündigungsrecht Gebrauch zu machen, setze jedoch das Vorliegen eines Vertragsstörungstatbestands im Sinn der Bestimmung des § 651j I BGB (erhebliche Erschwerung, Gefährdung oder Beeinträchtigung der Reise) voraus. Selbst wenn eine schadensursächliche Pflichtverletzung der Bekl. anzunehmen sei, fehle es an einem Verschulden. Zum einen sei die eigentliche Warnung erst zu einem Zeitpunkt ausgegeben worden, als sich die Kl. bereits auf dem Hinflug befunden habe. Zum anderen sei die Bekl. nicht verpflichtet gewesen, einen Notservice einzurichten und auch nachts die jeweils aktuellen Hurrikan-Vorwarnungen und Warnungen abzurufen. Das Risiko, das sich im vorliegenden Fall verwirklicht habe, sei dem Gefahrenbereich des Reisenden zuzurechnen.
3. a) Im Ausgangspunkt ist dem BerGer. darin beizutreten, dass Verletzungen von Informationspflichten wegen drohender Naturkatastrophen bereits nach der bis 31. 12. 2001 geltenden, im vorliegenden Fall maßgeblichen Rechtslage Ansprüche aus positiver Vertragsverletzung begründen können. Dies setzt allerdings voraus, dass die Handlung oder das Unterlassen, das den Vorwurf der Vertragsverletzung begründet, für einen beim Reisenden eingetretenen Schaden ursächlich war. Hiervon ist für das Revisionsverfahren jedenfalls deshalb auszugehen, weil das BerGer. gegenteilige Feststellungen nicht getroffen hat.
b) Solche Pflichtverletzungen sind dann zu bejahen, wenn das Verhalten der Bekl. in Bezug auf Informationsbeschaffung (Erkundigungen) und/oder Informationsweitergabe (Erteilung von Hinweisen) über die objektiv bestehende Gefahr eines Hurrikans im Zielgebiet der Reise nicht den Sorgfaltsanforderungen entsprach, die an einen ordentlichen Reiseveranstalter zu stellen sind (vgl. § 276 I 2 BGB in der bis zum 31. 12. 2001 geltenden Fassung - nachfolgend: a.F.; § 347 I HGB). Ob dies vorliegend der Fall war, ist nach den vom BerGer. getroffenen Feststellungen nicht abschließend zu beantworten.
aa) Nicht tragfähig ist dabei bereits die Ausgangsüberlegung des BerGer., dass auf Grund einer Eintreffwahrscheinlichkeit von 1 : 4 für den Hurrikan im Zielgebiet der Reise vor dem Abflug der Kl. und ihrer Angehörigen eine Erkundigungspflicht nicht bestanden habe. Es bedarf vorliegend keiner Klärung, ob sich die Bekl. am 20. 9. 1998 kurz vor Mitternacht nach der Lage hätte erkundigen müssen. Es ist nämlich nicht ersichtlich und es sind keine Tatsachen festgestellt, warum es der Bekl. nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen sein sollte, sich vor dem Abflug nach der Lage zu erkundigen und die Kl. entsprechend zu informieren. Selbst wenn dies nicht mehr möglich gewesen sein sollte, erscheint es nicht von vornherein als ausgeschlossen oder unzumutbar, die nach den Feststellungen des BerGer. nach dem Abflug der Kl. und ihrer Angehörigen herausgegebene Hauptwarnung, die auf eine massive Gefährdung hinweisen konnte, in einer Weise an die Kl. weiterzugeben, die dieser einen Abbruch der Reise vor Durchführung des Transfers in die gebuchte Unterkunft ermöglicht hätte. Insoweit hatte sich auch bei Annahme einer Verteilung der Darlegungs- und Beweislast nach Verantwortungsbereichen die Bekl. zu entlasten (§ 282 BGB a.F.; § 651f I Halbs. 2 BGB; vgl. BGHZ 64, 46 [51] = NJW 1975, 824, für den Fall der Verletzung kaufvertraglicher Nebenpflichten; BGHZ 66, 51 [53] = NJW 1976, 712, zum Verschulden bei Vertragsschluss; Senat, NJW 2000, 2018), und zwar dahin, dass ihr Verhalten einem auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichteten objektiven Sorgfaltsmaßstab entsprach (Senat, NJW 2000, 2018). Hierfür kann auch das Verhalten etwaiger anderer Reiseveranstalter, die sich in einer Lage befunden haben, die der der Bekl. entsprach, einen Anhaltspunkt geben.
bb) Dem steht entgegen der Auffassung des BerGer. nicht die vermeintlich geringe Eintreffwahrscheinlichkeit des Hurrikans von 1:4 im Zielgebiet der Reise entgegen. Geht man, wie dies ersichtlich auch das BerGer. tut und wie es der allgemeinen Lebenserfahrung entspricht, davon aus, dass Reisende im Bereich eines Hurrikans erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sind, stellt schon eine Eintreffwahrscheinlichkeit von 1 : 4 eine erhebliche Gefährdung des Reisenden dar, die sich nicht mit dem Hinweis auf ein „allgemeines Lebensrisiko“ abtun lässt. Als solches mag die nicht näher konkretisierte, in der Karibik jahreszeitabhängig immer bestehende Gefahr des Auftretens von Stürmen anzusehen sein, nicht aber die bereits zu einer Vorwarnung konkretisierte Gefahr im Zielgebiet. Es kann dem Reisenden auch unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der Vertragspartner schlechterdings nicht zugemutet werden, sich an einem Reisevertrag festhalten zu lassen, dessen Durchführung mit einer konkreten, so bei Vertragsabschluss im Regelfall nicht vorhersehbaren Gefahr einer Schädigung verbunden ist (vgl. Seyderhelm, ReiseR, § 651j BGB Rdnr. 23). Ein Kündigungsrecht des Reisenden wegen nicht voraussehbarer höherer Gewalt nach § 651j BGB (vgl. zum Begriff der höheren Gewalt BGHZ 100, 185 = NJW 1987, 1938; Senat, NJW 2002, 2238 [2240] = RRa 2002, 154) besteht deshalb auch dann, wenn mit dem Eintritt des schädigenden Ereignisses mit erheblicher, und nicht erst dann, wenn mit ihm mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist. Jedenfalls soweit ein solches Kündigungsrecht zu bejahen ist, besteht auch eine Hinweispflicht des Reiseveranstalters; dies sieht die Revisionserwiderung letztlich nicht anders. Ist der Reiseveranstalter zu Hinweisen nicht in der Lage, weil er nicht im gebotenen Umfang Erkundigungen eingezogen hat, begründet dies ohne weiteres objektiv den Vorwurf einer positiven Vertragsverletzung.
cc) Dabei wird sich die Frage, von welchem Gefährdungsgrad an eine erhebliche Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist und damit eine Hinweispflicht besteht, nicht in Form einer festen Größe, sondern nur fallweise unter Berücksichtigung des konkreten Inhalts des Reisevertrags beantworten lassen. So können etwa bei Abenteuer- oder Expeditionsreisen (vgl. hierzu OLG Karlsruhe, NJW-RR 1993, 1076: Trekking-Tour in Kamerun) in klimatisch besonders exponierte Gebiete durchaus andere Maßstäbe angemessen sein als bei Badereisen in gut erschlossene Urlaubsgebiete. Nach den im vorliegenden Fall vom BerGer. getroffenen Feststellungen handelte es sich indessen um eine Flugpauschalreise in einen Ferienclub mit Unterkunft und Vollpension unter Einschluss aller Nebenkosten („all inclusive“). Bei solchen Reisen wird von einer besonderen Risikobereitschaft der Reisenden jedenfalls nicht ohne weiteres ausgegangen werden können.
III. Ebenfalls als nicht tragfähig erweist sich auf dieser Grundlage die Annahme des BerGer., dass der Kl. ein Entschädigungsanspruch nach § 651f II BGB nicht zustehe. Das BerGer. hat die Verneinung eines solchen Anspruchs lediglich darauf gestützt, dass der Bekl. ein Verschulden nicht zur Last falle. Diese Begründung ist indessen, wie vorstehend ausgeführt, nicht tragfähig.
IV. Kann das angefochtene Urteil demnach auf Grund der bisher getroffenen Feststellungen keinen Bestand haben, kommt es auf die von der Revision aufgeworfene weitere Frage, ob die Bekl. auch für eine unterlassene Aufklärung der Kl. durch die Fluggesellschaft als ihrer Erfüllungsgehilfin einzustehen hat, derzeit nicht an. Feststellungen, die eine Beurteilung dieser Frage ermöglichen, sind zudem nicht getroffen. Von daher stellt sich jedenfalls derzeit auch nicht die Frage einer Vorlage der Sache zur Vorabentscheidung an den EuGH.